Sinkende Vergütungspauschalen für Inkontinenzhilfen machen eine adäquate ambulante Versorgung inklusive individueller Beratung der Patienten kaum noch möglich
Stellungnahme
Nach Ansicht der Deutschen Kontinenz Gesellschaft weist die ambulante Versorgungssituation im Bereich der Hilfsmittel für Patienten mit Inkontinenz kritische Mängel auf. Während die Qualität der Produkte sowie die Anforderungen an das Serviceangebot der Leistungserbringer wie Apotheken und Sanitätshäuser steigen, liegen die unterschiedlichen Erstattungspauschalen seitens der gesetzlichen Krankenkassen auf eher niedrigem Niveau – und sinken dazu vielerorts noch. So hat die AOK Nordwest ihre Vergütung für aufsaugende Inkontinenzhilfen ab Februar 2022 um 30 Prozent gemindert: von rund 17 Euro pro Monat auf knapp 12 Euro [1]]. Dieser Preis-verfall in einem ungeregelten PauschalSystem macht es den Leistungserbringern wirtschaftlich zunehmend unmöglich, Betroffene umfänglich zu versorgen. Denn für eine Ausstattung mit individuell passenden Hilfsmitteln ist außerdem auch eine vorherige intensive Beratung unverzichtbar. Und die ist jetzt schon in den meisten Fällen schlecht, wie beispielsweise das Fachmagazin Stiftung Warentest aufzeigen konnte. Die Deutsche Kontinenz Gesellschaft fordert feste Regeln, die insbesondere den komplexen Beratungsprozess strukturieren und ausreichend honorieren: Zum Wohle der Patienten und ihrer Lebensqualität.
Rund 10 Millionen Menschen in Deutschland sind von Inkontinenz betroffen. Eine Vielzahl von ihnen benötigt aufsaugende Hilfsmittel etwa spezielle Vorlagen oder Inkontinenzhosen. Laut dem GKV-Spitzenverband, Interessenvertreter der gesetzlichen Krankenkassen in Deutschland, werden allein rund 1,5 Millionen[2] gesetzlich Versicherte von ihren Krankenversicherungen regelmäßig mit aufsaugenden Inkontinenzhilfsmitteln versorgt. Dazu kommt noch eine hohe Dunkelziffer an Betroffenen, die aus Scham nicht zum Arzt gehen und sich auf eigene Faust mit Hilfsmitteln versorgen und jene, die anders versichert sind.
Die Versorgung mit Inkontinenzhilfsmitteln geht weit über die Produktlieferung hinaus. „Das Herzstück ist eine professionelle Beratung, Bemusterung und Austausch mit dem Betroffenen – erst auf dieser Basis kann eine zweckmäßige Ausstattung mit individuell passenden, sprich zuverlässigen, Hilfsmitteln gelingen“, betont Univ.-Prof. Dr. Andreas Wiedemann, erster Vorsitzender der Deutschen Kontinenz Gesellschaft. Tatsächlich fordern die Krankenkassen in ihren Verträgen mit Apotheken & Co. auch etwa Beratung, kostenlose Bemusterung und eine Dokumentation des Prozesses – aber selbst diese Basis-Serviceleistungen werden durch extrem niedrige Vergütungspauschalen nicht finanziert. Univ.-Prof. Dr. Wiedemann, Chefarzt der Urologischen Klinik am Evangelischen Krankenhaus Witten, erklärt: „Festzustellen ist: Fachberatung findet kaum statt oder nur in unzureichendem Maß. Das hat etwa das Fachmagazin Stiftung Warentest in einer aufwendigen Recherche[3] festgestellt. Nur drei von 20 untersuchten Anbietern – darunter Apotheken, Sanitätshäuser und Händler von Inkontinenzprodukten – bekamen die Note befriedigend.“ Alle anderen schnitten noch schlechter ab. Keiner der Testprobanden bekam ein passendes Produkt vorgeschlagen. Univ.-Prof. Wiedemann nennt einige Gründe: „Die Beratung wird nicht extra honoriert und auch die Bemusterung ist nicht gegenfinanziert.“
Experten fordern individuelle adäquate Versorgung – Krankenkassen erfüllen diese Pflicht häufig nicht. Gesetzlich Versicherte Personen haben zwar entsprechend des Fünften Sozialgesetzbuches (§ 33 SGB V) grundsätzlich Anspruch auf eine Versorgung, die ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich ist sowie qualitativ dem Stand der medizinischen Wissenschaft entspricht. So sind Krankenkassen verpflichtet, Inkontinenz-Patienten (ab Schweregrad 2) mit individuell notwendigen Inkontinenzhilfsmitteln auszustatten, die auch qualitativ festgelegten Vorgaben entsprechen müssen – und dies ohne Mehrkosten (außer dem gesetzlichen Eigenanteil von 10 Prozent des Erstattungsbetrags, maximal 10 Euro pro Monat). Die Realität sieht aber anders aus: Weil eine professionelle Beratung vielfach fehlt oder die eingeschränkte Produktrange der jeweiligen Krankenkasse kein individuell zuverlässiges Hilfsmittel bietet, greifen Patientinnen/Patienten vielfach zu anderen Produkten, um zuverlässig geschützt zu sein – deren Kosten sie aber aus eigener Tasche bezahlen. Das widerspricht dem Sachleistungsprinzip.
Der Beratungsprozess in Apotheken & Co. muss festen Kriterien folgen. Nur dann gewährleistet die Beratung eine optimale Hilfsmittelversorgung, die jeder Patientin und jedem Patienten individuell einen „sicheren“ Alltag ermöglicht, die Lebensqualität hebt und auch Folgeerkrankungen etwa an der Haut aufgrund falscher Inkontinenzmittel vermeidet. So können Kosten sogar noch gespart werden. „Bisher gab es für den notwendigen komplexen Beratungsprozess kein Format für einen zielorientierten Ablauf. Das wollten wir ändern“, erklärt Univ.-Prof. Wiedemann. Unter seiner Leitung erarbeitet der Arbeitskreis „Geriatrische Urologie“ eine Leitlinie, die den gesamten Versorgungsprozess strukturiert und Qualitätskriterien dafür definiert: Die S2k-Leitlinie Hilfsmittelberatung[4]. Sie schließt unter anderem auch die Kommunikation mit der beteiligten Ärztin/dem beteiligten Arzt mit ein. Zu den neuen Qualitätskriterien gehört etwa auch, dass die beratenden Personen definierte Kenntnisse über Harninkontinenz-Therapien haben müssen.
Die Deutsche Kontinenz Gesellschaft sieht dringenden Bedarf, das bestehende System der Pauschalvergütung in weiten Teilen zu reformieren. Der erste Vorsitzende Univ.-Prof. Wiedemann: Bei noch weiter sinkenden Pauschalen oder Delegation der Versorgung an überregionale Lieferanten mit „Hotlines“ ist eine weitere Verschlechterung der Hilfsmittelversorgung zu befürchten.“ Die Deutsche Kontinenz Gesellschaft prangert die intransparente Versorgung mit Inkontinenzhilfsmitteln schon seit Jahren an. Denn sie verstärkt die Tabuisierung von Inkontinenz, Betroffene ziehen sich aus dem gesellschaftlichen Leben zurück.
Die medizinische Fachgesellschaft ruft die Entscheidungsträger in Krankenkassen und Politik auf, die individuelle Grundversorgung mit insbesondere aufsaugenden Inkontinenzhilfsmitteln zu überarbeiten. Das Ziel sollte sein: eine angemessene Qualitätsversorgung ohne Mehrkosten für die Patientinnen/Patienten, optimal abgestimmt auf die jeweiligen Anforderungen und die Lebenssituation.
Um die Hilfsmittelversorgung insgesamt zu verbessern, fordert die Deutsche Kontinenz Gesellschaft konkret:
• bundesweite Vereinheitlichung der Pauschalen auf höherem Niveau
• ausgewiesene Honorierung des Beratungsprozesses
• Einführung einer Strukturierung des Beratungsprozesses auf Basis der Leitlinie Hilfsmittelberatung der Deutschen Gesellschaft für Urologie (DGU)
Das Fazit von Univ.-Prof. Andreas Wiedemann: „Wir haben offensichtlich ein Problem in der ambulanten Versorgung mit Inkontinenzhilfsmitteln. Das verschärft sich durch weitere Absenkungen der ohnehin schon intransparent gestalteten Pauschalen. Und dies kann so nicht weitergehen. Wir brauchen eine von allen im Gesundheitsbereich beteiligten Akteuren erarbeitete Lösung.“
Literatur: [1] Vertrag der AOK Nordwest zur Versorgung mit aufsaugenden Inkontinenzhilfen (PG 15) ab 1. Februar 2022 – www.aok.de/gp/homecare/vertraege/pg15-aufsaugenden-inkontinenzhilfen [2] GKV-Spitzenverband: Pressemitteilung 15. März 2016: Qualität der Inkontinenzversorgung wird deutlich verbessert – www.gkv-spitzenverband.de/presse/pressemitteilungen_und_statements/pressemitteilung_357440.jsp [3] Magazin Stiftung Warentest #7/2017: Kein Verlass auf Profis – www.test.de/Beratung-bei-Inkontinenz-Kein-Verlass-auf-Profis-5196555-0 [4] Deutsche Gesellschaft für Urologie. Hilfsmittelberatung, S2k-Leitlinie, 2020. AWMF-Registernummer 043-054 – www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/043-054.htm